100 Meilen von Berlin 2015



Niemand hat die Absicht 100 Meilen zu laufen!

Es ist Mitte August und Berlin stöhnt unter einer grossen Hitze. Gestern waren es deutlich über 30 Grad. Genau das richtige Wetter um sich an einer Strecke von 161 Kilometern zu versuchen.

Etwas mulmig ist mir schon, als ich im Ramada Hotel am Alexanderplatz beim Briefing sitze. Was wird mich ab morgen früh wohl erwarten?

Mit mir sitzen fast 350 Einzelstarter in den Reihen und lauschen gespannt dem Briefing von Rennleiter Hajo Palm. Anschliessend spricht der Rennarzt auch nochmal ein paar ernste Worte und berichtet über die DO's und DON'Ts während des Rennens ("Mit angebrochener Rippe kann man aus ärztlicher Sicht durchaus weiterlaufen").

In Kreuzberg übernachte ich mit einigen Gleichgesinnten im Haus des Sport. Es wird eine sehr kurze Nacht werden, denn bereits um 4 Uhr bringt uns der Bus zum Startgelände. Aber bevor ich mich hinlegen kann, wird noch die Gedenkkarte für Marienetta Jirkowsky und die Wechselsäcke gepackt. Morgen früh ist für sowas keine Zeit mehr. Dann kann es ja endlich losgehen!


 



Etappe1: Vom Jahn-Sportpark bis Henningsdorf (km 34)

Um Punkt 6 Uhr starten wir also im Jahn-Sportpark im Stadtteil Prenzlauer Berg und begeben uns auf die grosse Runde um West-Berlin. Es ist noch angenehm kühl und ich laufe mit der Masse mit. Die Pfeile sind gut auf der Strasse zu erkennen und die Stadt ist noch sehr ruhig. Er herrscht quasi kein Verkehr. Nun ist eine gute Gelegenheit etwas Zeit auf die Zeitlimits herauszulaufen.  

Über die Bornholmer Brücke (eigentlich Bösebrücke) geht es Richtung Norden. Hier öffnete sich am 09.November 1989 der erste Grenzübergang. Noch befinden wir uns in der Großstadt und man kann sich die Mauer nur schwierig vorstellen.

Spätestens bei Lübars (km12) wird es ein Landschaftslauf. Nun gibt es viel Wald (in Frohnau) und sandige Böden. Immer wieder durchqueren wir kleine Ort. In einem kommen uns zwei Triathleten entgegen und bejubeln lautstark unser Vorhaben. Puh, das gibt erstmal einen ordentlichen Adrenalinschub, aber der Weg ist noch sehr, sehr lang. Ich sollte einfach ruhig und locker weiterlaufen.

Mitten im Wald erreichen wir uns einen ehemaligen Grenzturm, den nun die Waldjugend nutzt. 

Kurze Zeit später bin ich dann in Hohen Neuendorf, wo Marienetta Jirkowsky erschossen wurde. Zum Glück habe ich meine Andenkenkarte nicht verloren und hefte sie an die aufgestellte Pinnwand. Die Zeit um mir alle Karten durchzulesen habe ich nicht, dazu wird bei der Siegerehrung noch genug Zeit sein.

Es folgt die Invalidensiedlung aus dem 18.Jahrhundert und nach Überquerung der A111 ist der Wechselpunkt1 beim Ruderclub Oberhavel erreicht. Ich liege eine knappe Stunde vor dem Zeitlimit. Langsam wird es wärmer und das Laufen in der Hitze anstregender.

 



Etappe2: Von Henningsdorf bis Schloss Sacrow (km 71)

Nun wird es richtig warm.

Die Strecke ist flach und zieht sich. Zuerst geht es noch an der Havel entlang und es gibt sogar einen schönen Sandstrand (km 41), aber dafür ist nicht wirklich keine Zeit. 

Es geht weiter durch viel Wald und bei km52 ist Berlin-Spandau erreicht. So richtig habe ich keine Ahnung, wo ich mich befinde. Ich schalte auf Autopilot und folge den gelben Pfeilen bzw. meinen Vordermann, denn meist ist man doch nie ganz alleine unterwegs.

Einmal verlaufe ich mich ganz kurz, aber der Fehler ist zum Glück schnell erkannt und korrigiert. Mensch, ich muss immer aufmerksam bleiben. 

Nach dem VP10 in der Kleingartenanlage Karolinenhöhe geht es endlos auf einem Radweg weiter. Es wird ein bisschen zäh und der Himmel zieht sich zu. Es sieht nach Regen aus.

In Kladow erreiche ich den VP von Familie Pagel genau in dem Moment, als es anfängt zu schütten. Zum Glück ist es hier überdacht und ich harre einige Minuten aus und esse Kartoffeln bis der schlimmste Regen vorbei ist.

Nun bin ich am Groß Glienicker See. Hier ist es einfacher auf der Strasse zu laufen, da der Bürgersteig im miserablen Zustand ist. Es ist jetzt schon ein ziemlicher langer Tag und es liegen immer noch fast 100 Kilometer vor mir. Puh - noch nicht mal Halbzeit.

Nach einem Anstieg und anschliessendem wieder Herunterlaufen im Wald ist Schloss Sacrow erreicht. Die 2.CutOff-Zeit ist geschafft - 90 Minuten Vorsprung habe ich herausgelaufen!




Etappe3: Von Schloss Sacrow nach Teltow (km 103)

Beim zweiten Wechselpunkt habe ich meine Stirnlampen und die orange Warnweste hinterlegt. Diese brauche ich für die Nacht, also ab damit in den Rucksack und weiter.

Es geht endlos durch den Wald entlang der Havel - immer geradeaus. Ich bin nun völlig alleine unterwegs und stets froh, wenn ich eine Streckenmarkierung vorfinde. Ich bin noch richtig - und irgendwann hat auch dieser Abschnitt ein Ende und ich erreiche Potsdam.

Über die Glienicker Brücke führt die Strecke, hier wurden früher im Kalten Krieg Agenten zwischen Ost und West ausgetauscht. Dann bin ich also im noblen Babelsberg. Hier stehen viele Villen und am Griebnitzsee ist Km 90 erreicht. Eine Dreier-Gruppe vor mir läuft am VP und der Zeitnahme vorbei und ich rufe ihnen schnell hinterher, bevor sie noch disqualifiziert werden.

Mitten im Wald geht es nun knapp 6km immer geradeaus. Hier habe ich wieder einige Läufer in Sichtweite, aber als es nun dunkel wird, mache ich eine kurze Pause um Stirnlampe und Warnweste anzulegen - und schon bin ich wieder alleine unterwegs.

Seit etwas Kilometer 70 schmerzen die Füsse doch ziemlich. Ich sehne den Wechselpunkt3 herbei. Dort habe ich ein anderes Paar Schuhe mit weicheren Sohlen im Wechselbeutel hinterlegt. Lange kann es jetzt nicht mehr dauern und wirklich gegen 23.15h erreiche ich die Jahnsporthalle.





Etappe4: Von Teltow ins Ziel (km 161)

In der Halle ist es sehr voll. Einige Läufer liegen auf Matten und schlafen oder lassen sich massieren. So wie es aussieht, ist hier keiner mehr ohne Blasen oder Schmerzen unterwegs.

Ich nehme nur etwas heisse Bouillon und mache mich wieder auf den Weg, noch 58km.

Nun folgen sehr lange Abschnitte im Dunkeln. Laternen sucht man hier vergebens. Links liegt Berlin, rechts Brandenburg. 

Ich versuche nur von Verpflegungspunkt zu Verpflegungspunkt zu denken. Das Ziel ist ja noch ewig entfernt. 

Die Nacht ist etwas kühler, aber es ist immer noch angenehm. Lediglich das Buff habe ich mir um den Hals gebunden. Über endlose Kilometer geht es nun so im Dunkeln dahin. Ich versuche nicht daran zu denken, dass sich bei einer vorigen Ausgabe ein Läufer mal völlig verirrte und erst einen Tag später völlig dehydriert gefunden wurde. So etwas wird mir nicht passieren!

Die meiste Zeit habe ich auch 1-2 Stirnlampen vor mir im Blick. In den frühen Morgenstunden kommt zum Teil ein leichter Nebel auf. Ich finde es etwas unheimlich, wenn ich nun im Dunkeln auf Gedenkstelen treffe und in die Fotos der Maueropfer blicke. Vermutlich haben sie bei ähnlichem Wetter die Flucht riskiert und ihr Leben verloren. Puh, dabei bekomme ich eine Gänsehaut!

Mein Mantra für die letzten 40 Kilometer lautet: Weiter, weiter, immer weiter. Jeder Schritt bringt mich dem Ziel näher.

Ich laufe schon einige Zeit mit Blasen, aber das wird mich sicher nicht stoppen. Irgendwann kommt ein brennender Schmerz und danach ist es besser. Es scheint so, als hätte ich mir gerade selber die Blase beim Laufen aufgetreten. Sachen gibt's!

Bei Km 126 erreiche ich den VP "Zicke". Hier herrscht Partystimmung und ich esse ein kleines Stück Kotelett, was ich gut vertrage.

Jetzt bin ich wieder in Berlin. Endlich wieder höhere Gebäude, die etwas Abwechslung bringen. Die Innenstadt rückt näher. Auf den Berliner Strassen sind kaum Autos unterwegs. Alle schlafen oder feiern vielleicht noch in Kreuzberg.

Dann ist der Teltow-Kanal erreicht und was ich nicht weiss, es folgen wieder sechs Kilometer Einsamkeit. Links der Kanal, rechts die Schutzwand der Autobahn.  Hier starb mit Chris Gueffroy das letzte Maueropfer im Februar 1989.

Nun dämmert es und die Stirnlampe kann zurück in den Laufrucksack. Jetzt folgt die Großstadt.

Nach Rudow bin ich nun in Kreuzberg. Auf der Schlesischen Strasse sind noch einige Partygänger unterwegs, die mich aber nicht behindern. Es wird nun schon wieder recht warm, als ich links in die East Side Gallery einbiege.

Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Checkpoint Charlie, Brandenburger Tor und Reichstag. Jetzt sind es nur noch 4 Kilometer bis ins Ziel. Das wird ganz, ganz sicher reichen.

Dann bin ich auch schon an der Bernauer Strasse, hier hatte ich vor 2 Tagen eine Führung (ist es erst zwei Tage her? es fühlt sich ewig an).

Gemeinsam mit dem Luxemburger Marc geht es auf die letzten Meter. Zum Jahnsportpark kann es nicht mehr weit sein, die Flutlichtmasten zeigen den Weg. Im Stadion dann nochmal 300m und der Zielbogen ist erreicht. Es ist vollbracht und ich bin froh, mich mal hinzusetzen.

 

 

 

Kurze Zeit nach mir kommen weitere Läufer ins Ziel.

Ein Österreicher fällt sofort auf die Knie und ruft "Nie wieder".

Ein anderer kann im Ziel seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Ein episches Abenteuer ist zuende.

28:07:52h war ich unterwegs und belege Platz 150.


In der Umkleide ist Zeit für eine erste Bilanz:
- einige obligatorische Blasen

- Sonnenbrand vom Morgen an den Knien (die Sonnencreme war in DropBag2)

- reichlich Muskelkater und geschwollene Füsse

 

Die Siegerehrung am Nachmittag wird dann nochmal sehr stimmungsvoll und emotional. Schirmherr Rainer Eppelmann hält eine schöne Rede und jeder Finisher wird persönlich auf der Bühne beglückwünscht.